Ausblick 2022

Dr. Martin Stötzel 27. Dezember 2021

Ist sie gekommen, um zu bleiben oder ist sie nur ein Besucher, dessen Aufenthalt allen Beteiligten unangenehm ist, der aber letztlich keinen ernsthaften Schaden anrichtet, weil seine Verweildauer begrenzt ist? Die Antwort auf diese Frage dürfte wohl über die Qualität des Ausblicks auf die Finanzmärkte für das Jahr 2022 entscheiden. Und als ob die Komplexität der Ausgangssituation nicht schon vorher äußerst anspruchsvoll gewesen wäre, beschert die jüngste Verschärfung der Covid-19 Pandemie durch die Omikron Variante den Analysten zusätzliche Kopfschmerzen. Denn die Auswirkungen auf die Inflation, und nichts anderes beschäftigt die Investoren zurzeit mehr als dieses heikle Thema, erfahren durch den jüngsten Pandemieschub erneut einen Dreh in eine unerforschte Richtung. Dabei durfte sich die Mehrheitsmeinung jüngst bestätigt sehen. Denn die mächtige US- Notenbank erfüllte auf ihrer letzten Sitzung am 15.12. die Erwartungen der Marktteilnehmer. Aufgrund der sehr positiven Wirtschaftsentwicklung in den Vereinigten Staaten und dem zuletzt deutlich steigenden Preisniveau stimmte FED-Chef Powell die Märkte auf drei Zinserhöhungen im kommenden Jahr ein. Auf der vorherigen Sitzung waren noch zwei Zinserhöhungen angekündigt worden. Allerdings begleitete die FED die Entwicklung der letzten Wochen mit entsprechenden Kommentaren, so dass die jetzige Entscheidung absolut nicht überraschend kam. Genauso wenig, wie die Reduzierung der Wertpapierkäufe, die von der US-Notenbank im Dezember und Januar um rund 30 Mrd. Dollar reduziert werden und im Frühjahr auslaufen sollen.

Offensichtlich reichte den meisten Investoren die Verschärfung der Gangart der Notenbanker, obwohl die letzten Inflationsdaten für den November mit 6,8 Prozent sehr weit über die Zielzone von 2 Prozent hinausgeschossen waren. Dessen ungeachtet erwartet die FED auch in der aktualisierten Inflationsprognose „nur“ 2,6 Prozent für das kommende Jahr. Die Verunsicherung der Investoren, die in den vorangegangenen Tagen für stärkere Schwankungen gesorgt hatte, legte sich nach der FED-Sitzung und der Optimismus sorgte für deutliche Kursgewinne. Doch nur einen Tag später war alles schon wieder hinfällig und das lag an Omikron.

Was nun die Meinungen über die Inflationsaussichten für 2022 und darüber hinaus angeht, so lassen sich die Extreme ungefähr so zusammenfassen: Wir stehen am Beginn eines neuen inflationären Zyklus, argumentieren die Einen. Aufgrund der Lieferkettenprobleme und des heftigen Preisanstieges bei den Energiepreisen steigen ebenfalls die Preise der Konsumgüter in Größenordnungen, die bereits als ausgestorben galten. Aufgrund des Arbeitnehmermangels – und zwar nicht nur im Facharbeiterbereich, sondern in der Breite der Produktions- und Dienstleistungsunternehmen – können die Beschäftigten deutliche Lohnzuwächse aushandeln, was wiederum den Einstieg in die gefürchtete Lohn-Preisspirale darstellt. Die außerordentlich hohen Transferleistungen des Staates, ganz besonders in den USA, sorgen für ebenfalls für einen kräftigen Konsumanstieg und zusätzlich für eine Beschleunigung des Geldumlaufs. Gerade der letzte Faktor ist von großer Bedeutung, denn die bislang hohe Sparneigung bremste den Geldumlauf, was wiederum inflationsbremsende Auswirkungen hatte. Die Inflation wird auf Dauer Größenordnungen deutlich oberhalb von 5 Prozent erreichen und die Notenbanken zwingen die Zinsen deutlich stärker anzuheben, als derzeit vom Markt erwartet. Soweit diese Ansicht.

Die Notenbanken und eine Reihe von Analysten sehen dagegen in den aktuellen Preissteigerungsraten eher eine Reaktion auf die Pandemiekrise und die anschließenden Probleme in den Lieferketten. Sie erwarten, dass sich diese Entwicklung auf absehbare Zeit abschwächt, Angebot und Nachfrage wieder in eine stabile Beziehung eintreten und es nicht zu einer Lohn-Preisspirale kommt. Dabei wird nicht verkannt, dass die Lieferkettenproblematik möglicherweise noch im gesamten Jahr 2022 auftreten könnte, noch, dass Energiepreise sowie Nachhaltigkeitsanforderungen die Produktion und den Transport vieler Produkte insgesamt verteuern werden. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die zwei von den Medien besonders befeuerten Ungleichgewichte in der Produktions- und Lieferkette des Jahres 2020 und 2021: Toilettenpapier und Bauholz. Nach einer heftigen Phase mit Panikkäufen und Titelstorys verschwanden beide Phänomene wieder und es kam zu einer deutlichen Beruhigung der Märkte. Eine ähnliche Entwicklung sollte im kommenden Jahr auch auf globaler Ebene zu beobachten sein, so dass die Preissteigerungen aufgrund von Substitution und Innovation sowie durch ihren mäßigenden Effekt auf die Nachfrage auf einen flacheren Pfad einschwenken werden. Dennoch wird die Inflation aus den genannten Gründen auch langfristig ein höheres Niveau erreichen, als in der vergangenen Dekade. Nur war das ja auch das Ziel der gesamten Anstrengungen von Notenbanken und Regierungen. Denn die Alternative, nämlich ein Sinken des Preisniveaus, also Deflation, rief zurecht die größeren Sorgenfalten bei Bankern und Anlegern hervor. Und schließlich haben die schärferen Anforderungen an die Unternehmen in Bezug auf die Sorgfaltspflicht im Produktionsprozess sowie die Verteuerung der Energie ebenfalls eine absichtsvolle Preissteigerungskomponente.

Das kommende Jahr wird mit großer Sicherheit im Laufe der Wochen und Monate Ereignisse und Daten bereithalten, die mal die eine Seite und mal die andere Seite der Sichtweise favorisieren. Für die Investoren kann das zu unangenehmen Schwankungen gerade an den Aktienmärkten und in einigen zinssensiblen Sektoren führen. Am Ende wird sich jedoch herausstellen, dass die „transitorische“ Sicht eher den Gegebenheiten Rechnung tragen und der ungebetene Gast bei seinem Besuch keine Verwüstung anrichten wird.

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